PM EGMR v. 15.09.2011- 17080/07 | Zum Umgangsrecht eines Vaters mit seinem leiblichen Sohn

Pressemitteilung des Kanzlers ECHR 144 (2011)

Entscheidung der deutschen Gerichte über Umgangsrecht eines Vaters mit seinem mutmaßlichen Sohn hätte Kindeswohlinteresse berücksichtigen sollen

In seinem am 15.09.2011 verkündeten Kammerurteil im Verfahren Schneider gegen Deutschland (Beschwerdenummer 17080/07), das noch nicht rechtskräftig ist (1), stellte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einstimmig fest, dass eine Verletzung von Artikel 8 (Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens) der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) vorlag.

Der Fall betraf die Weigerung der deutschen Gerichte, dem Beschwerdeführer Umgang mit seinem mutmaßlichen leiblichen Sohn zu gewähren, dessen rechtlicher Vater der
Ehemann der Kindesmutter ist.

Zusammenfassung des Sachverhalts

Der Beschwerdeführer, Michael Schneider, ist deutscher Staatsangehöriger, 1958 geboren, und lebt in Fulda. Zwischen Mai 2002 und September 2003 hatte er eine Beziehung mit einer verheirateten Frau, Frau H., und behauptet, der leibliche Vater ihres 2004 geborenen Sohnes F. zu sein, dessen rechtlicher Vater der Ehemann der Frau ist. Herr und Frau H. leben inzwischen mit F. sowie einer älteren Tochter und einem weiteren, 2007 geborenen, Kind im Vereinigten Königreich. Das Ehepaar vertritt die Auffassung, dass Herr Schneider, ebenso aber Herr H., der leibliche Vater von F. sein könnte, und zieht es im Interesse des familiären Zusammenlebens vor, die Vaterschaft
nicht feststellen zu lassen.

Während Frau H.’s Schwangerschaft begleitete Herr Schneider sie zu mindestens zwei ärztlichen Untersuchungen und erkannte beim Jugendamt die Vaterschaft des ungeborenen Kindes an. Nach F.’s Geburt, im August 2004, stellte Herr Schneider beim Amtsgericht-Familiengericht Fulda einen Antrag auf Umgang zweimal im Monat und auf regelmäßige Auskunft über die persönlichen Verhältnisse des Jungen. Das Gericht wies den Antrag im Oktober 2005 ab. Es befand, dass er, selbst unter der Annahme, er sei der biologische Vater, zu keiner der Personengruppen gehöre, die nach dem BGB umgangsberechtigt sind: er sei nicht der rechtliche Vater des Kindes; seine Vaterschaftsanerkennung sei nicht rechtskräftig, da Herrn H.’s Vaterschaft fortbestehe; er habe nicht das Recht, Herrn H.’s Vaterschaft anzufechten, da zwischen letzterem und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe; schließlich sei Herr Schneider keine
enge Bezugsperson des Kindes, da er nie mit ihm zusammengelebt habe.

Im Berufungsverfahren bestätigte das Oberlandesgericht Frankfurt am Main das Urteil des Amtsgerichts. Im September 2006 nahm das Bundesverfassungsgericht die Verfassungsbeschwerde Herrn Schneiders nicht zur Entscheidung an (Az. 1 BvR 1337/06). Es befand, dass die Beschwerde unzulässig sei, soweit sie sich gegen die Nichtfeststellung seiner Vaterschaft durch die Familiengerichte richtete, da er sein Begehren auf Kenntnis der Abstammung zuvor in einer gesonderten Anfechtungsklage hätte geltend machen müssen. Soweit seine Beschwerde sich gegen die Zurückweisung von Umgangs- und Auskunftsansprüchen richte, sei sie unbegründet, da das Grundgesetz die Beziehung des leiblichen, aber nicht rechtlichen Vaters zu seinem Kind nur schütze, wenn zwischen ihm und dem Kind eine sozial-familiäre Bindung bestehe, die darauf beruhe, dass er zumindest eine Zeit lang tatsächlich Verantwortung für das Kind
getragen habe.

Beschwerde, Verfahren und Zusammensetzung des Gerichtshofs

Unter Berufung insbesondere auf Artikel 8 rügte Herr Schneider die Weigerung der deutschen Gerichte, ihm Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn und Recht auf Auskunft zu gewähren. Weiter beschwerte er sich, dass die Gerichte den maßgeblichen Sachverhalt im Hinblick auf die Beziehung zu seinem Sohn nicht ausreichend aufgeklärt hätten, dass sie insbesondere keine Klärung der Vaterschaft angeordnet und nicht geprüft hätten, ob sein Umgangsrecht im Interesse des Kindeswohls läge. Unter Berufung auf Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 (Diskriminierungsverbot) rügte er außerdem, dass er durch die Entscheidungen der deutschen Gerichte diskriminiert worden sei.

Die Beschwerde wurde am 4. April 2007 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte eingelegt.

Das Urteil wurde von einer Kammer mit sieben Richtern gefällt, die sich wie folgt zusammensetzte:

Dean Spielmann (Luxemburg), Präsident,
Karel Jungwiert (Tschechien),
Boštjan M. Zupančič (Slowenien),
Mark Villiger (Liechtenstein),
Isabelle Berro-Lefèvre (Monaco),
Ann Power (Irland),
Angelika Nußberger (Deutschland), Richter,
und Claudia Westerdiek, Sektionskanzlerin.

Entscheidung des Gerichtshofs

Artikel 8

Der Gerichtshof befand, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte, Herrn Schneider Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn F. und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse zu verwehren, einen Eingriff in seine Rechte aus Artikel 8 darstellten. Da seine biologische Vaterschaft nicht nachgewiesen war und nie eine enge persönliche Bindung zwischen ihm und dem Kind bestanden hatte, gab es zwar kein bestehendes „Familienleben“. Dieser Umstand war Herrn Schneider aber nicht anzulasten. In Anwendung der maßgeblichen Bestimmungen des BGB hatten die deutschen Gerichte seine Vaterschaftsanerkennung für nicht wirksam erklärt, da Herrn H.’s Vaterschaft gelte. Eine gesonderte Anfechtungsklage gemäß § 1600 Abs. 1 Nr. 2 BGB – die Herr Schneider nach Auffassung der deutschen Regierung hätte anstrengen können – wäre auf Grundlage des geltenden Rechts zum Scheitern verurteilt gewesen.
Überdies hätte ein solches Verfahren darauf abgezielt, als rechtlicher Vater anerkannt zu werden, ein weitreichenderes Ziel als die Absicht Herrn Schneiders, seine biologische Vaterschaft für die Ausübung eines Umgangsrechts mit dem Kind feststellen zu lassen.

Auch wenn Herr Schneider und Frau H. nicht zusammengelebt hatten, war unbestritten, dass ihre ein Jahr und vier Monate dauernde Beziehung nicht bloß zufällig gewesen war. Herr Schneider hatte sein Interesse an F. hinlänglich deutlich gemacht, indem er das Kind gemeinsam mit Frau H. plante, sie zu ärztlichen Untersuchungen begleitete und die Vaterschaft noch vor der Geburt anerkannte. Der Gerichtshof schloss folglich nicht aus, dass Herrn Schneiders Absicht, eine Beziehung zu dem Kind aufzubauen, in den Geltungsbereich des „Familienlebens“ gemäß Artikel 8 fiel. Selbst wenn die Frage, ob Herr Schneider ein Umgangs- und Auskunftsrecht beanspruchen konnte, nicht als „Familienleben“ gelten konnte, so betraf sie aber in jedem Fall einen wichtigen Teil seiner Identität und folglich sein „Privatleben“ im Sinne von Artikel 8.

Im Hinblick auf die Frage, ob der Eingriff in Herrn Schneiders Rechte gerechtfertigt war, nahm der Gerichtshof zur Kenntnis, dass die Entscheidungen der deutschen Gerichte mit den maßgeblichen Bestimmungen des deutschen BGB in Einklang standen. Weiter zielten sie darauf ab, die Interessen des Ehepaares sowie der während der Ehe geborenen Kinder, die bei ihm lebten, zu schützen.

Die deutschen Gerichte hatten Herrn Schneider Umgang mit seinem mutmaßlichen Sohn und Auskunft über dessen persönliche Verhältnisse aber verwehrt, ohne zu untersuchen, ob ein solches Umgangs- und Auskunftsrecht unter den besonderen Umständen des Falls im Kindeswohlinteresse läge oder ob die Interessen Herrn Schneiders als denjenigen der rechtlichen Eltern übergeordnet angesehen werden müssten. Der Gerichtshof bezog sich auf einen ähnlichen Fall, der die Weigerung der deutschen Gerichte betraf, einem Vater Umgang mit seinen Kindern zu gewähren, die bei ihrer Mutter und deren Ehemann lebten, ohne dabei zu berücksichtigen, ob Kontakte zwischen dem Beschwerdeführer und seinen Kindern in deren Interesse läge.(2) In dem Fall war der Gerichtshof zu dem Schluss gekommen, dass die deutschen Gerichte keine gerechte Abwägung der konkurrierenden Interessen vorgenommen hatten. In Herrn Schneiders Fall war zwar nicht nachgewiesen, ob er tatsächlich der biologische Vater des fraglichen Kindes ist, dieser Unterschied war für die Entscheidungen der Gerichte aber unerheblich. Sie waren für ihre Erwägungen von seiner Vaterschaft ausgegangen und hatten seinen Antrag abgelehnt, weil er nicht der rechtliche Vater des Kindes war und keine sozial-familiäre Bindung mit ihm bestand.

In beiden Fällen waren die Gründe, warum der (mutmaßliche) biologische Vater keine Beziehung mit dem betroffenen Kind bzw. den Kindern aufgebaut hatte, für die Schlussfolgerungen der deutschen Gerichte unerheblich gewesen. Folglich hatten sie dem Umstand, dass der jeweilige Beschwerdeführer aus rechtlichen und praktischen Gründen nicht in der Lage war, die Beziehung zu den Kindern zu beeinflussen, keinerlei Bedeutung beigemessen.

Der Gerichtshof unterstrich, dass es Aufgabe der nationalen Gerichte ist – die mit allen Beteiligten in direktem Kontakt stehen – festzustellen, ob Kontakte zwischen einem biologischen Vater und seinem Kind in dessen Interesse liegen oder nicht. Allerdings war der Gerichtshof nicht davon überzeugt, dass das Interesse von Kindern, die bei ihrem rechtlichen Vater leben, aber einen anderen biologischen Vater haben, tatsächlich mit Hilfe einer allgemeinen rechtlichen Vermutung ermittelt werden kann. In Anbetracht der großen Vielfalt möglicherweise betroffener Familienkonstellationen erfordert die gerechte Abwägung der Rechte aller Beteiligten eine Untersuchung der besonderen Umstände des Falls. In Herrn Schneiders Fall hatten die deutschen Gerichte keine solche Untersuchung vorgenommen. Folglich lag eine Verletzung von Artikel 8 vor.

Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14

Im Hinblick auf seine Schlussfolgerungen unter Artikel 8 sah es der Gerichtshof nicht als notwendig an, darüber zu befinden, ob die Entscheidungen der deutschen Gerichte Herrn Schneider unter Verstoß gegen Artikel 8 in Verbindung mit Artikel 14 diskriminiert hatten.

Artikel 41

Gemäß Artikel 41 (gerechte Entschädigung) entschied der Gerichtshof, dass Deutschland Herrn Schneider 5.000 Euro für den erlittenen immateriellen Schaden und 10.000 Euro für die entstandenen Kosten zu zahlen hat.

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Das Urteil liegt nur auf Englisch vor.

Diese Pressemitteilung ist von der Kanzlei des EGMR erstellt und für den Gerichtshof nicht bindend.

Anmerkung

(1)  Gemäß Artikel 43 und 44 der Konvention sind Kammerurteile nicht rechtskräftig. Innerhalb von drei Monaten nach der Urteilsverkündung kann jede Partei die Verweisung der Rechtssache an die Große Kammer beantragen. Liegt ein solcher Antrag vor, berät ein Ausschuss von fünf Richtern, ob die Rechtssache eine weitere Untersuchung verdient. Ist das der Fall, verhandelt die Große Kammer die Rechtssache und entscheidet durch ein endgültiges Urteil. Lehnt der Ausschuss den Antrag ab, wird das Kammerurteil rechtskräftig.

(2) Anayo gegen Deutschland (Beschwerdenr. 20578/07) vom 21. Dezember 2010

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